von Meik Schwalm | Künstlercoaching Berlin
– Stimmtrainer und Persönlichkeitscoach –
In meiner aktiven Zeit als Opernsänger sagte mein privater Gesangslehrer Neil Semer immer: „Optimales Üben besteht zu 80 Prozent aus Kopfarbeit und zu 20 Prozent aus Üben mit Instrument.“ Diese Gewichtung ist vielleicht extrem, doch sehr viele erfolgreiche Musiker wenden das Prinzip der geistigen Praxisarbeit bereits an. In diesem Beitrag gibt es eine Anleitung zum Aufbau und zur Integration in die täglichen Übungsroutinen.
Neurowissenschaftler haben die Wirksamkeit der geistigen Art zu üben längst nachgewiesen: In einer Studie hat ein Teil der Teilnehmer lediglich geistig eine Fünf-Finger-Sequenz zwei Stunden täglich auf einem imaginären Klavier geübt und hatte die gleichen neurologischen Veränderungen und die gleiche Reduzierung der Fehler wie die anderen Teilnehmer, die physisch auf einem echten Klavier dieselbe Passage übten. Erkenntnis war, dass geistige Praxis die gleichen Hirnregionen wie körperliche Praxis aktiviert und sogar zur gleichen Veränderung in neuronaler Struktur und synaptischen Verbindungen führen kann. Die psychologische Literatur zu diesem Thema legt nahe, dass es zwei wichtige Bedingungen gibt, die es im Auge zu behalten gilt: Das eine ist das Systematische (wie bereits in einem früheren Beitrag beschrieben) und das andere das Lebendige.
Hier ein Ablauf für das mentale Üben
1. Ruhe
Schließ Deine Augen. Konzentrier Dich für eine Minute nur auf Deine Atmung. Atme langsam und vollständig durch die Nase ein und dann langsam durch den Mund aus. Dann mach einen Ganzkörperscan: Überprüf den Kopf und die Gesichtsmuskeln, Kiefer, Nacken, Schultern, Arme, Handgelenke, Hände, Rücken, Hüften, Oberschenkel, Waden, Knöchel, auch Zehen. Finde jede Spannung und lass sie in Deiner Vorstellung dahinschmelzen.
2. Fokus erweitern
Dies kann durch vieles geschehen – Du mit Deinem Instrument im Proberaum – das, was Du normalerweise siehst, wenn Du übst. Sieh es Dir in Deinem Kopf an. Im ersten Moment mag es nicht leicht sein, den Fokus darauf zu halten – aber es ist in Ordnung, etwas Kleines zu nehmen, damit die Vorstellung lebendig wird und diese Lebendigkeit den Rest Deiner vorgestellten Umwelt erweitert.
3. Warm-up
Stell Dir vor, dass Du Dich mit einem einfachen Stück einspielst – etwas Dir Bekanntem. Kannst Du Dich selbst hören? Genau so, wie es klingt? Wie fühlst Du Dich? Kannst Du Deine Finger, Arme, Schultern, Deine Lunge, Deinen Rachen usw. fühlen? Bedien Dich aller kinästhetischen Elemente, die Dir möglich sind – erwecke Deinen geistigen Überkörper zum Leben.
4. Vorstellung
Sieh Dich, fühl Dich und hör Dir beim Spielen zu. Konzentrier Dich auf die Bewegung, die Sounds und die Effekte, auf die Du Dich gerade konzentrieren willst. Geh durch die Musik und entwirf Notizen in Deinem Kopf: Note für Note, Satz für Satz. Bleib am Spielen, bis Du einen Fehler machst oder das Bedürfnis hast, den Klang oder Ablauf zu korrigieren.
5. Innere Aufzeichnung
Wenn Du Dich „hörst“ bzw. „siehst“ und es klingt nicht so, wie Du es willst, drück die Pausentaste auf Deiner geistigen inneren Aufnahme. Spul zu einer Stelle vor dem Fehler zurück. Starte an diesem Punkt – geh langsam und in einer Geschwindigkeit, die Du steuern kannst, nach vorn. Wiederhol diesen Vorgang mehrmals so wie in der wirklichen Praxis, bis es durchläuft. Spul nicht einfach immer wieder zurück und versuch es nicht gedankenlos nochmal. Stell sicher, Pausen zu haben, und frag Dich, warum der Fehler passiert ist. Und dann versuch es noch einmal.
6. Realitätsbezug
Es ist sehr wichtig, die Erfahrung so lebendig wie möglich zu halten. Fühl das Instrument unter den Fingern, Händen, Lippen. Hör wirklich den Ton, die Phrasierung, die Lautstärke. Sieh Dich und den Raum um dich herum, während Du auf Deinem Instrument spielst.
Noch ein paar Anmerkungen
Wenn Du diese Technik anwendest, teil Deine Stücke in kürzere Segmente, wie Phrasen oder kürzere Absätze des Stücks. Versuch Dich an verschiedenen Orten zu visualisieren. Trag unterschiedliche Kleidung und spiel unter verschiedenen Bedingungen.
Wenn Du das Gefühl hast, den Dreh für die geistige Praxis rauszuhaben, teste Dich. Nimm Dich beim Üben eines Stücks auf. berprüf und bewerte Dich und Deine Leistung. Dann absolviere eine Reihe von mentalen Proben mit den Vorschlägen zu den Korrekturen der Fehler. Spiel das Stück erneut und nimm Dich auf und notiere Dir, was sich geändert hat.
Ich bin sicher, dass Du Dich, sobald die systematische geistige Praxis ein Teil Deiner täglichen Überoutine geworden ist, fragst, wie Du jemals ohne sie ausgekommen bist…
Viel Spaß beim Ausprobieren!
Meik
Meik Schwalm ist diplomierter Opernsänger mit über einem Jahrzehnt Bühnenerfahrung an unterschiedlichen Opernhäusern in Europa. 2010 gründete er www.kuenstlercoaching-berlin.de: für ein positiveres Bewusstsein und neue Lebensperspektiven von Künstlern. Die Coachings und Trainings bietet Meik in deutscher und englischer Sprache an. Er lebt in Berlin.
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