Bild: Wienbibliothek im Rathaus, Wien Musiksammlung, MHc 1844
Es ist fast nicht zu fassen, aber passend zum Beethovenjahr 2020 wurde aus Wien eine kleine Sensation vermeldet: Der Chefredakteur der Wiener Urtext Edition, Dr. Jochen Reutter, hat bei Recherchen in einer Bibliothek der Stadt ein bislang unentdecktes kleines Klavierstück von Beethoven ausgegraben.
Welch ein wunderbares Beispiel für die akribische Arbeit der Redakteure, Lektoren und all der anderen Menschen im Hintergrund der Musikverlage! In unserer schnelllebigen Welt mit Noten-Apps, unbegrenzten Downloadmöglichkeiten und der stetigen teils kostenlosen Verfügbarkeit von digitalen Inhalten geht manchmal die so wichtige menschliche Arbeit unter.
Ich war bereits mehrmals auf Dienstreise beim UE-Verlag und bei der Wiener Urtext Edition, zwei Institutionen der Notenwelt, denen wir uns herzlich verbunden fühlen. Bei unseren Treffen tauschen wir uns über Fachliches aus und debattieren und diskutieren über die Zukunft der Notenbranche. Oftmals konnte ich dabei den spannenden Geschichten von Dr. Reutter lauschen und Einblicke in seine Arbeit rund um die Entstehung einer Notenausgabe gewinnen. Aber wie kommt es zu einem solchen außergewöhnlichen Fund?
Bei der Recherche zu einer ganz anderen Notenausgabe entdeckte Dr. Jochen Reutter diese Takte aus der Feder von Ludwig van Beethoven. Menschen wie Dr. Reutter reisen durch die ganze Welt, forschen in Nachlässen, suchen in Schränken alter Klöster oder bei zufälligen Dachbodenfunden nach Spuren und Werken, die Komponisten hinterlassen haben. Eine wirklich spannende Arbeit! Wer hätte gedacht, dass noch nicht alle Werke von Beethoven entdeckt worden sind?
Aber nun auch zu dem kleinen Stück selbst! Improvisierende Musiker kennen Folgendes aus ihrer täglichen Arbeit: Man übt tagein, tagaus verschiedenste Phrasen, Motive, Riffs und Licks (speziell auch im Jazzbereich) und hat diese dann später stets abrufbereit und kann sie in der Improvisation frei kombinieren. Manches Thema schreibt man sich auf und kann dann später wieder darauf zugreifen und es wieder abwandeln.
Ungefähr so könnte man sich Ludwig van Beethoven irgendwann 1790 bis 1792 (dies ist wissenschaftlich belegt) in Bonn vorstellen, als er auf einem Doppelblatt zwischen anderen „musikalischen Notizen“ eine Skizze eines kleinen, 16-taktigen Ländlers notiert. Im Handgepäck, so kann man vermuten, nimmt er das Blatt dann mit auf die Reise, als er 1792 nach Wien reist. Möglicherweise hat er das kleine Stück sogar einmal als Thema einer seiner viel gerühmten Improvisationen verwendet. Hören wir doch mal hinein:
Ungefähr 230 Jahre lang erkannte niemand, dass es sich bei diesen 16 Takten inmitten anderer Skizzen um ein eigenständiges kleines Stück handelt, notiert auf einer Doppelblattseite, die heute in der Wienbibliothek im Rathaus in der österreichischen Hauptstadt lagert. Bis eben Dr. Reutter sie in die Hände bekam und erkannte, was sich dort zwischen anderen Noten versteckt hatte.
Ich finde, es sollte bei allem Fortschritt, den die digitale Welt uns bietet, nicht vergessen werden, welche unermüdliche und akribische menschliche Arbeit oft den vielen Neuerungen vorausgeht. Das kurze Stück von Beethoven ist sicherlich ein eindrucksvoller Beleg für den Wert dieser Arbeit.
Ein Danke für die Bereitstellung des Materials geht an:
Dr. Jochen Reutter, Wiener Urtext Edition
Dr. Thomas Aigner, Wienbibliothek im Rathaus, Wien
Rachel James, University Centre Colchester
Haydn White, Colchester Institute Library
Klavier: Nils Franke, www.nils-franke.com
Beethoven Ländlerischer Tanz
Verlagsnr.: UT 50296
Bild oben:
Wienbibliothek im Rathaus, Wien
Musiksammlung, MHc 1844