Seit Wochen überlege ich, welches Thema und welche Worte ich für unseren Weihnachtsnewsletter auf das Blatt bringe. Ich muss sagen, dass es mir wohl noch nie so schwer gefallen ist. Drehen wir ein neues Weihnachtsmusikvideo? Verlosen oder verschenken wir Noten? Machen wir ein winterliches musikalisches Gewinnspiel, oder wünschen wir wie immer eine gesegnete Weihnachtszeit und obendrauf ein frohes neues Jahr?
Dieses Jahr ist alles anders. Theater und Konzertsäle sind geschlossen. Feiern, Events und musikalische Darbietungen sind verboten. Nachrichten über schwere Krankheitsverläufe, Reiseeinschränkungen und neue Virusvarianten sind bedrückend, und viele unserer Kunden blicken ungewiss in die Zukunft. Sie wissen nicht, wie es nächstes Jahr weitergeht. Wie soll ich vor diesem Hintergrund einen Newsletter für eine Musikalienhandlung verfassen?
Zeitsprung zurück. Im September, als noch kleinere Konzerte unter Auflagen stattfinden konnten, durfte ich in Berlin zusammen mit meinem Duopartner Shawn Grocott, weiteren befreundeten Musikern und bekannten Poetry-Slammern eine Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung mitgestalten, die auch online live übertragen wurde. Seit ein paar Jahren schon ist das Poetry-Jazz-Slam-Fest ein fester Termin in unserem Kalender. Thematisch geht es dabei um das vereinte Europa mit all seinen Möglichkeiten, Aufgaben und Problemen. (Für Interessierte hier ein kleiner Filmausschnitt der gemeinsamen Schlussimprovisation der Veranstaltung.)
In diesem ganz besonderen Jahr drückte mir die Gründerin und Organisatorin dieser Veranstaltung, Franziska Richter, ein frisch erschienenes Buch in die Hand. Unter dem Titel „Echoräume des Schocks – Wie uns die Corona-Zeit verändert“ lässt Franziska, die Herausgeberin dieser Anthologie, Kulturschaffende und Kreative zu Wort kommen, die von Ängsten und Hoffnungen in ihrem Alltag berichten.
Im aktuellen Lockdown, dem zweiten, sitze ich nun zu Hause, habe wieder einmal dieses Buch in der Hand und möchte an dieser Stelle zwei Seiten zitieren, die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Auch wenn dieser Beitrag etwas länger wird als sonst, möchte ich die Geschichte der Schauspielerin, Autorin und Fotografin Judith Döker in ihren eigenen Worten wiedergeben und als Weihnachtsbotschaft 2020 in die Welt senden:
Wie jeden Morgen hievten Suraj und ein junger Mann, den alle nur „Boy“ nannten, einen großen Bottich mit Reis und einen Bottich mit Dal in einen alten, ausrangierten Krankenwagen. Für mich war es der erste von insgesamt 28 Tagen, an denen ich die beiden Männer fotografisch begleitete, die den Ärmsten der Armen, die auf den Straßen Kalkuttas leben, eine warme Mahlzeit bringen.
Morgendlicher Nebel lag noch über der Stadt und die sonst so verstopften Straßen waren leer. Bestimmt zwanzig Menschen warteten schon an der ersten Station auf uns. Jeder von ihnen bekam eine Kelle Reis, eine halbe Kelle Dal und ein Glas Wasser. Dann ging es zügig weiter. Nächster Stopp war die Howrah Bridge. Ein paar Kühe bedienten sich gemächlich an einer Müllkippe. Unmittelbar daneben war eine Plane provisorisch an einer Mauer befestigt, die als Behausung diente. Dahinter lugte eine junge Frau hervor. Freudestrahlend kam sie auf uns zu und wechselte ein paar Worte auf Bengali mit den Männern. Mir gab sie durch eine Handbewegung zu verstehen, dass ich kurz warten solle. Sie verschwand hinter der Plane, griff ihr Baby und präsentierte mir den kleinen Jungen voller Stolz. Suraj und der Boy saßen schon im Auto und warteten auf mich.
„Warum hat denn die Frau nichts zu essen bekommen?“, fragte ich. „Sie sagte, dass sie heute kein Essen braucht“, antwortete Suraj und fügte mit einem milden Lächeln hinzu: „Du wirst staunen. Es gibt ein paar Leute hier auf unserer Route, die das Essen nur dann annehmen, wenn sie es wirklich brauchen. Ansonsten überlassen sie es denjenigen, für die der Teller Reis die einzige Mahlzeit am Tag ist.“
Seit dieser Fotoreise nach Kalkutta war ich in vielen Krisen- und auch Kriegsgebieten unterwegs und habe Menschen porträtiert. Ich habe diejenigen gesehen, die ein Leuchten in den Augen haben, obwohl sie bitterarm sind. Ich habe die gesehen, die Vertrauen haben, obwohl es ihnen an fast allem fehlt. Und ich habe die gesehen, die kein Vertrauen haben und sich arm fühlen, obwohl sie so viel besitzen. Denn was unterscheidet die junge Mutter aus Kalkutta von einem Menschen in Mitteleuropa, der zu Zeiten von Corona Toilettenpapier hamstert? Die junge Frau aus Kalkutta handelt nicht aus der Angst heraus. Sie spürt ihr Herz und vertraut darauf, dass sie zur rechten Zeit wieder eine Mahlzeit bekommen wird. Ein Mensch aber, der von der Sorge getrieben ist, dass ihm während der Zeit des Shutdowns das Toilettenpapier ausgeht, handelt aus einem Mangelbewusstsein heraus und damit aus der Angst. Und genau das ist das Problem. Unsere Welt krankt an der Angst. Denn da, wo Angst ist, kann keine Liebe sein …
Diese Zeilen aus dem Buch haben mich enorm berührt. In dieser Zeit, wo den Musikern Konzerte wegbrechen, Umsatzausfälle von Tausenden Euro wegzustecken sind, Ausgangssperren und Reisebeschränkungen verhängt werden und die Zukunft so ungewiss ist, können wir von der jungen Mutter aus Kalkutta viel lernen. Mit starkem Herzen die Welt verändern. Wir Musiker und Künstler haben alle Fähigkeiten dazu, und das weltweite Drücken der Pause-Taste und die gewaltigen Umbrüche wie auch die damit verbundenen Ängste und die Isolation führen hoffentlich auch dazu, dass wir wieder enger zusammenrücken und mehr Solidarität an den Tag legen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete Weihnachtszeit.
Wolfgang Meyer
Hier können Sie das Buch bestellen:
Echoräume des Schocks
Wie uns die Corona-Zeit verändert.
Reflexionen Kulturschaffender und Kreativer
Eine Anthologie
Herausgegeben für die
Friedrich-Ebert-Stiftung
von Franziska Richter
ISBN 978-3-8012-0589-8
Textauszüge kursiv von
Judith Döker
Foto: © Judith Döker